Jahresrückblick fem*so 2021

Jahresrückblick für den Verein fem*so PDF

2021. Ein feministisch bewegtes Jahr

Das Ende der Männerherrschaft?

Sarah Probst für den Vorstand von Fem*so

Als die feministische Bewegung in Stadt und Kanton Solothurn im Jahr 2019 Aufwind erhielt, schrieben wir auf unsere Transparente „Wir streiken, bis wir auf den Trümmern des Patriarchats tanzen können“. Zwei Jahre später liegt das Patriarchat zwar noch nicht in Trümmern, doch haben wir daran gerüttelt und einiges ins Wanken gebracht. Anknüpfend an den historischen Frauenstreik 1991 hat die feministische Bewegung am 14. Juni 2019 zahlreiche Aktivist:innnen auf den Strassen, den Plätzen, in den Küchen und Wohngemeinschaften vereint. Dieser grosse feministische Streik hinterliess in Solothurn nachhaltig Spuren. Wir haben uns vernetzt – über Generationen-, Schichten- und Milieugrenzen hinweg – und kämpfen auch heute weiter. Es gilt, noch viele Fragmente und Brocken, noch viel Schutt dieses uns kleinhalten wollenden, patriarchalen und kapitalistischen Systems abzutragen.

Doch 2021 war – neben dem 50. Jubiläum des Frauenstimm- und -wahlrechts auf nationaler Ebene – für die Stadt Solothurn von historischer Bedeutung: Die Männerherrschaft ist beendet! Zum ersten Mal steht eine Frau am Schalthebel der politischen Macht – zumindest auf der Ebene der institutionellen Politik. Klar, als basisdemokratische und ausserparlamentarische Bewegung wollen wir längerfristig alle hierarchischen Strukturen abbauen und das Amt der Stadtpräsidentin überflüssig machen. In einer feministisch fundierten und gerechteren Gesellschaft übernehmen alle gleichermassen Verantwortung, weshalb wir keine Chef:innen mehr brauchen werden. Doch im gegenwärtigen, männerdominierten Spätkapitalismus, in einer durch Kriege, Pandemie, Überfluss und Umweltzerstörung zerrütteter Gesellschaft, ist jeder abdankende alte privilegierte bürgerliche weisse Mann ein (Teil-)Erfolg. Und damit blicken wir auf ein feministisch bewegtes zurück:

  • An der Assise im Januar 2021 nahmen Mitglieder von Fem*so und dem Solothurner Streikkollektiv teil. Wir konnten unsere Arbeit der feministischen Szene der ganzen Schweiz vorstellen und traten wieder in einen Austausch mit anderen feministischen Gruppen und insbesondere anderen Streikkollektiven. Wir diskutierten an Workshops über Ökologie, Mutterschaft und Feminismus, Care Arbeit, Widerstandsformen und vieles mehr.
  • Die AG 8. März organisierte ein vielseitiges und vielschichtiges Programm, das aufgrund der Pandemie am 7. März online stattfand. Die Aktivistinnen zeigten Kurzfilme über engagierte Frauen aus Stadt und Kanton Solothurn, ein Podiumsgespräch über die Geschichte der Care-Arbeit und deren Einfluss auf aktuelle feministische Kämpfe fand statt, Interessierte konnten sich online über eine speziell errichtete Plattform austauschen und Elena Gerster gab zum Abschluss ein Konzert.
  • Im Juni 2021, kurz vor dem feministischen Streik, erschien die Streikpost#5, und zwar zum Thema Abrechnen: „2021. Ein Jahr voller Jubiläen. Während viele die (verspäteten) feministischen Errungenschaften in der Schweiz feiern, wollen wir auf die vorherrschenden Ungerechtigkeiten aufmerksam machen! Versteht uns nicht falsch – wir denken gerne an vergangene feministische Kämpfe, an unsere (Gross-)Mütter und andere Vorkämpferinnen, denen wir unglaublich viel verdanken. Aber dennoch, die Errungenschaften, die dieses Jahr gefeiert werden, reichen uns bei weitem nicht!“ Die Beiträge fragten unter anderem danach, ob sich seelischer Schmerz, etwa in Folge von sexualisierter Gewalt, in Rechnung stellen lässt. Ebenso waren Ansätze von transformativer Gerechtigkeit ein Thema: Täterarbeit, Schadensersatz oder, ganz zentral, Vernetzung und Bündnisse von „Betroffenen“ kamen zur Sprache. Weiter ging es in dieser Ausgabe um Schmerz infolge von romantischen Beziehungen oder negativen Erfahrungen mit männlich geprägten Politgruppen in der ausserparlamentarischen Linken.
  • Vor dem Streiktag schrieb die AG Inhalt das «Utopier», das anschliessend vom Streikkollektiv verabschiedet wurde. Der Forderungskatalog, den wir zwei Jahren zuvor dem Regierungsrat übergeben hatten, blieb weitgehend folgenlos. Mit dem Utopier stellten wir weniger realpolitische Forderungen als vielmehr eine Zukunftsvision zur Diskussion, wie wir uns eine gerechtere Gesellschaft vorstellen.
  • Am 14. Juni 2021 trafen sich rund 300 Personen in der Stadt Solothurn. Es gab verschiedene Posten, wo sich Aktivist:innen informieren, treffen und protestieren konnten: eine Lese-und Hörecke in der Altstadt, ein Kreativposten auf dem Amtshausplatz, ein feministischer Chor beim Landhaus, auf dem Kreuzackerplatz verschiedene Stände, Informationen, Essen, Musik und ein Workshop zur Frage von safe spaces. Wir haben immer wieder kurze Protestaktionen gestaltet und waren überwältigt, wie viele, insbesondere junge Feministinnen, am Protest teilnahmen. Die Unia war vor Ort und übernahm spontan die Koordination via Megafon. Weiter kam das Thema Gewalt an Frauen* zur Sprache und auf Transparenten und Plakaten konnten vielfältige und kämpferische Botschaften gelesen werden. Abschliessend lief eine kleinere Gruppe spontan durch die Stadt und konnten den Tag so laut und bestimmt abschliessen.
  • Im Dezember 2021 fand in Solothurn eine bewegende und beeindruckende Veranstaltung über Hexen und sexualisierte Gewalt[1] statt, organisiert von Aktivistinnen* aus dem Umfeld des Solothurner Streikkollektivs. Während zweier Stunden diskutierten und informierten verschiedenste Personen über dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte und seinen gewaltvollen Auswüchsen in der Gegenwart, insbesondere in Zeiten der weltweiten Pandemie. „Sexuelle Gewalt ist eine gravierende Menschenrechtsverletzung. Trotzdem werden sexuelle Übergriffe in der Schweiz in den allermeisten Fällen nicht angezeigt“, schreibt Amnesty International. Wie gerade die Podiumsdiskussion in der Genossenschaft Kreuz verdeutlichte, die im Rahmen der Kampagne „16 Tage gegen Gewalt an Frauen*“ organisiert wurde, gibt es unzählige laute und starke Stimmen von Aktivistinnen*, die sich klar gegen diese Formen von – allzu oft sehr alltäglicher – Gewalt wehren. Leider ist dazu nach wie vor eine grosse Solidarisierung unter Betroffenen, Freundinnen, Fachpersonen, etc. erforderlich. Doch hat der Anlass verdeutlicht, dass wir gemeinsam – in alltäglichen Gesprächen, mit Aktionen, Vorträgen oder Publikationen – viel bewegen können.

Ende Dezember 2021 erschien schliesslich die Streikpost#6. Sie war inhaltlich breiter gehalten und erschien nicht zu einem spezifischen Thema: „Lange haben wir darüber diskutiert, welches Thema wir wählen. Einig sind wir uns vor allem  darüber: Alles ist wichtig, alles ist politisch, alles ist feministisch!“ Inspiriert von der Kampagne „16 Tage gegen Gewalt an Frauen*“ drehte sich das Editorial um Hexenverfolgung in Solothurn und Gewalt an Frauen*. Laut der feministischen Friedensorganisation CFD wurden im Jahr 2019 in der Schweiz neunzehn Frauen* getötet, jede Stunde erleben zwei Frauen* häusliche Gewalt. Wir können und wollen diesen gewaltvollen Status quo nicht länger akzeptieren. Deshalb fordern wir von dieser Gesellschaft: „don’t protect your daughters, educate your sons“. Wir haben es satt, immer und überall die ganze Verantwortung zu übernehmen! Neben dem Thema Gewalt thematisierten die Beiträge in der 6. Ausgabe u.a. Safer Dating, Mutterschaft und Feminismus oder die Dekolonialisierung unseres Bücherregals.


[1] Bei sexualisierter Gewalt handelt es sich um Formen von Gewalt und Machtausübung mittels sexueller Handlungen. Wir verwenden den Begriff „sexualisierte Gewalt“, um auf die gesellschaftliche Dimension hinter einzelnen Handlungen und die strukturellen Probleme aufmerksam zu machen.